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Story-Versehentlich erschossen

Verfasst: Sa 27. Aug 2011, 09:10
von Pyramidentraeumer
Von seinem Nachbarn aus Versehen erschossen

Der Türke Selim Fesli war 47 Jahre alt, als er sich mit seinem Esel am 9. Mai 1958 vor einem seiner Felder befand, das an den Weinberg seines Nachbarn Isa Dirbekli grenzte. Gegen Abend pflegte er dann auf diesem Esel in sein Dorf Hatun Köy heimzureiten. Doch wie erschrocken waren die Seinen zu Hause, als der Esel ohne seinen Herrn allein zurückkehrte. Irgend was konnte nicht stimmen.

Man eilte zu seinem Feld. Hier fand man Selim unter Schmerzen am Boden liegen, das Gesicht blutüberströmt.
Er atmete noch und zeigte Reaktionen. Er stöhnte vor Schmerzen auf, doch vermochte nicht zu sprechen. Man drang in ihn zu sagen, wer - offenbar mit der Schrotflinte - auf ihn geschossen habe. Doch er brachte keinen Namen über die Lippen, schien jedoch anzudeuten, dass es jemand aus dem Dorf gewesen sei.

Erst nach Stunden traf die Polizei am Tatort ein. Mit einem Taxi beförderte man ihn schliesslich ins Krankenhaus des benachbarten Iskenderum in der Südosttürkei, wo er sechs Tage darauf verstarb. Den Namen seines Mörders hat er nicht mehr zu nennen vermocht.

Die Polizei verhaftete zwei Tatverdächige. Einer von diesen war jener Nachbar Isa Dirbekli. Dieser gestand, seinen Freund aus Versehen erschossen zu haben. Denn er war mit seiner Schrotflinte Jagen gegangen. Er sah, wie sich etwas im Gras bewegte, dachte, es sei ein Hase, und drückte ab. Als er plötzlich Schreie hörte, sei er herbeigeeilt. Er hatte den am Boden liegenden und wohl ein Schläfchen abhaltenden Selim ins Ohr geschossen, denn aus diesem und der angrenzenden Gesichtspartie drang Blut. Er selbst sei dann in Panik geraten und habe den Ort des Unfallgeschehens schleunigst verlassen. Befragt, warum er Selim nicht geholfen oder zumindest Hilfe herbeigeholt habe, antwortete er, dass er Angst vor der Rache von Selims Söhnen gehabt hätte. dass er vor dem späteren Gericht den glaubwürdigen Eindruck vermittelte, dass es sich wirklich um einen bedauerlichen Unfall handelte, verhängte der Richter eine Gefängnisstrafe von nur zwei Jahren über ihn.

Die Söhne des Ermordeten schienen den Tod des Vaters ebenfalls als ein unglückliches Schicksal anzusehen und nahmen somit von einem Racheakt Abstand. Selims Vater indes war fest davon überzeugt, dass dieser Mord von jenem Nachbarn und Freund, mit dem sein Sohn sich zur damaligen Zeit in Streit befand, vorsätzlich ausgeführt worden war.

Der Autopsiebericht, der später dem Arzt Dr. Stevenson zur Einsicht von seinen Kollegen übergeben wurde, besagte, dass sechs Löcher auf der rechten Gesichtshälfte und auf der Seite des rechten Ohres zu finden waren und dass aus dem Ohr Blut drang. Nach Öffnung des Schädels konnte festgestellt werden, dass Schrotkugeln ins Gehirn eingedrungen waren.

Zwei Kilometer von Hatun Köy entfernt befindet sich das Dorf Sarkonak. Dort war Frau Karanfil Tutusmus Ende 1958 hochschwanger und befand sich in Erwartung eines zweiten Kindes. Zwei Tage vor der Niederkunft ihres zweiten Sohnes, dem der Name Semih gegeben werden sollte, hatte sie einen Traum. Sie sah darin, dass ein Mann, dessen Gesicht blutüberströmt war, ihr Zimmer betrat. Sie fragte ihn, warum er gekommen sei, denn ihr Mann befände sich augenblicklich in Ankara, und bat ihn, wieder zu gehen. Dieser entgegnete, dass er Selim Fesli heisse und dass man ihn ins Ohr geschossen hätte.

Als Frau Tutusmus aufwachte, erinnerte sie sich, dass vor Monaten ein Mann dieses Namens in der Gegend des Nachbardorfes versehentlich erschossen worden war. Als ihr Mann zurückgekehrt war, erzählte sie ihm von diesem Traum. Ihr Mann, der Gemüseladenbesitzer Ali Tutusmus, kannte den damals Verunglückten sehr gut und konnte späterhin Stevenson sogar dessen Charakter beschreiben.

Die Mutter von Semih, dessen rechtes Ohr klein und deformiert war (vgl. Abb. 3), erinnerte sich, dass ihr Bub schon mit eineinhalb Jahren seinen Namen nicht annehmen wollte und sagte, dass er Selim heisse, ja dass er sogar seinen Nachnamen nannte, der genau jener war, den dieser Mann in ihrem Traum vor der Geburt ihres Sohnes genannt hatte, nämlich Selim Fesli.

Ihr gegenüber offenbarte Semih mit der Zeit, dass er von Isa Dirbekli ermordet worden sei, denn er hätte ihm mutwillig ins Ohr geschossen. Schon mit vier Jahren lief er allein jene zwei Kilometer in das Nachbardorf Hatun Köy. Er ging in das Haus seiner früheren Frau und sagte: "Ich bin Selim, du bist meine Frau Katibe." Anscheinend konnte er ihr viele Einzelheiten aus ihrem früheren gemeinsamen Leben erzählen, darunter auch die folgende:

Er sah einen aus Schilfrohr geflochtenen Korb und sagte: "Diesen Korb habe ich dir gekauft. Und du hast ihn immer noch dort stehen, wo ich ihn hingestellt habe." Offenbar hatte er Frau Katibe Fesli durch solche Feststellungen überzegen können, dass er tatsächlich ihr verstorbener Mann Selim war. Als er dann seine früheren Töchter und Söhne wiedersah, nannte er sie bei Namen.

Semih ging nun öfter allein nach Hatun Köy, obwohl man es ihm verboten hatte und er dafür sogar Schläge bezog. Doch konnte er dem Drang nicht widerstehen, in sein früheres Heimatdorf und zu seiner früheren Familie zurückzugehen, wo man ihn willkommen hiess. So begegnete ihm einmal ein Mann, der davon gehört hatte, dass dieser Bub der vormalige Selim sein sollte, und fragte ihn: "Kennst du mich?" Und der Kleine antwortete prompt: "Ich kenne dich sehr gut. Du bist Ali Battihi." Dieser war ein früherer Nachbar von Selim.

Manchmal ging er fünf- bis sechsmal in der Woche nach Hatun Köy. Seinen früheren Kindern gegenüber benahm er sich, ungeachtet der Tatsache, dass sie alle viel älter waren als er, wie ihr Vater und mischte sich auch in die Familienangelegenheiten ein. dassalle überzeugt zu sein schienen, dass er ihr verstorbener Vater war, liess man ihn gewähren.

Als nun Taju, Selims zweiter Sohn, heiratete, hatte man Semih nicht zur Hochzeit eingeladen. Er fühlte sich darüber derart beleidigt, dass er seine frühere Familie zwei Monate lang nicht mehr besuchte. Um diesen Fehler wiedergutzumachen, lud man ihn zu der Verlobungsfeier Hasans, des jüngsten von Selims Söhnen, ein. Semih bat seinen Vater, ihm etwas Geld zu geben, das er seinem 'Sohn' Hasan zur Verlobung schenken könne. Der Vater schien sich schon längst mit der Tatsache abgefunden zu haben, dass sein Sohn auch noch zu einer anderen Familie gehörte, weshalb er ihm etwas Geld gab. Als Hasan ein Jahr später heiratete, hat Semih sich von seinemVater einen grösseren Betrag geben lassen, um ihn dem Bräutigam zu übergeben.

Als Semih acht Jahre alt war, wollte Frau Katibe Fesli sich wieder verheiraten. Nachdem Semih davon gehört hatte, ging er sofort nach Hatun Köy, stellte den Brautwerber zur Rede und drohte ihm an, ihn töten zu wollen, wenn er 'seine' Frau ehelichen würde. Und Katibe gegenüber sagte er vorwurfsvoll: "Was fällt dir ein, neben mir noch einen anderen Mann heiraten zu wollen!" Und Katibe antwortete, dass sie keinerlei Absicht habe, einem anderen Mann das Jawort zu geben.

Drei Jahre später verstarb Katibe. Als Semih davon hörte, kam er schnellstens nach Hatun Köy. Die Nachricht hatte den Zwölfjährigen derart erschüttert, dass er dort in Tränen aufgelöst ankam und Nachbarn Stevenson späterhin bestätigten, dass er mehr um Katibes Tod trauerte als ihre eigenen Kinder. So habe auch eine Tante noch späterhin Semih am Grabe der Katibe angetroffen, wo er lange sass und weinte. Einmal habe sie ihn dort, so berichtet sie, bewusstlos liegen gesehen, so dass sie einen Eimer Wasser über ihn gegossen habe, um ihn wieder zum Bewusstsein zu bringen.

Isa Dirbekli hatte sich nach seiner Rückkehr aus dem Gefängnis einem neuen Gewerbe zugewandt. Er verkaufte jetzt auf der Strasse Raki-Schnaps, den er in Flaschen mit sich führte. Als der achtjährige Semih ihn sah, hob er Steine auf und schleuderte diese auf Isa, wobei er auch eine Flasche zertrümmerte. Wann immer er Isa sah, griff er unwillkürlich zu Steinen, warf auf diesen Strassenverkäufer und drohte ihm, sich einst an ihm zu rächen, wenn er gross geworden sei.

Denn Semih erinnerte sich noch gut an die wirklichen Zusammenhänge. Er sei damals mit seinem Nachbarn und Freund Isa darüber in Streit geraten, dass sein Esel hin und wieder in Isas Weinberg lief. Als Selim sich zu einem Schläfchen niedergelegt hatte, entdeckte Isa dessen Esel ein weiteres Mal in seinem Weinberg. Daraufhin habe er sein Gewehr genommen und in seiner Wut eine Schrotladung auf den Liegenden abgefeuert. Ausserdem habe er des Blutenden Mund geöffnet und hineingespuckt, was nach ihrem Aberglauben bedeutet, dass der Tote oder Verwundete dann nichts mehr über den Täter verlauten lassen kann, was ja dann auch wirklich eintrat. Als Stevenson späterhin Isa traf und ihn nach den wahren Begebenheiten um Selims Tod befragte, stritt dieser jegliche bewusste Tötungsabsicht ab, gab jedoch zu, dass er sich vor der Rache Semihs fürchte.

Im Alter von achtzehn Jahren, als Semih den Militärdienst ableistete, hatte man ihm ein künstliches Ohr angepasst, das bei flüchtigem Hinsehen nicht als solches zu erkennen war. Resat Bayer, Professor Stevensons türkischer Mitarbeiter, unternahm es, Semih von seinen Rachegelüsten zu heilen, indem er ihm vor Augen hielt, dass Isa, wenn er ihn töten würde, ebenfalls wiedergeboren werden würde und dann wiederum Rache an ihm nehmen könnte. Das könnte sich dann so unentwegt von Leben zu Leben weiterentwickeln. Dies einsehend, änderte er seine Haltung seinem Mörder gegenüber, obwohl es ihn jedesmal noch, wie er späterhin gestand, in der Hand jucke, Steine auf jenen zu werfen.