Re: Maya Keller Grimm
Verfasst: Mi 9. Jul 2014, 13:06
von Das Buch des Lichts
"Wir müssen dafür sorgen, dass wir inmitten dieser in Verwirrung geratenen Welt nicht plötzlich zu frieren beginnen, weil wir nur noch uns selbst sehen und unsere kleinen und großen egoistischen Anliegen, ohne des Leids unserer Mitwesen gewahr zu werden. Ist aber unser Gemüt von allumfassender Güte, von Ruhe und innerer Heiterkeit durchtränkt und gesättigt, dann werden ungeahnte Kräfte in uns wach, Kräfte, die wir bisher nicht einmal dem Namen nach kannten. Sie wirken gleich einem Magneten, der uns den höheren Welten entgegen - und schließlich der vollkommenen inneren Geborgenheit zuführt."
M. Keller-Grimm
Re: Maya Keller Grimm
Verfasst: Mi 9. Jul 2014, 13:08
von Das Buch des Lichts
Der doppelte Anatta-Anblick
Kurzvortrag von Maya Keller-Grimm
Wohl ausnahmslos wird der negative Anatta-Anblick, gleichviel in welcher Form, dem
positiven Anatta-Anblick vorausgehen. In gleichem Maße als sich durch meine auf die
Persönlichkeit ausgerichtete Besonnenheit dazukomme, diese meine Persönlichkeit gleich
einem unaufhörlich wechselnden Strom an mir vorüberfließen zu sehen, in gleichem Maße
erlebe ich mich selbst als von diesen Prozessen völlig unberührt, erlebe mich selbst als
außerzeitlich und außerweltlich. Damit aber koste ich bereits das ganze Wohlbefinden, das der
positive Anatta-Anblick in sich birgt, der sich in zunehmenden Loslösungszuständen zeigt, die
schließlich, am Gipfel angelangt, in der Seligkeit des Erkennens des eigenen Nibbanam
münden. „Die auf den Körper gerichtete klare Besinnung hat sich eingestellt, in den sechs
Gebieten der Berührung ist er selbstbeherrscht, der allzeit konzentrierte Jünger kann sein
eigenes Nibbana erkennen“, heißt es im Udana (3, 5).
So sind denn meines Erachtens der negative und der positive Anatta-Anblick auf das engste
verknüpft und in Wirklichkeit nicht zu trennen. Sie stützen sich gegenseitig wie zwei
aneinander gelehnte Büschel Ried. Dies bringen unter anderem auch die Verse in den Psalmen
der Mönche, Vers 518, klar zum Ausdruck: „Wenn das Leid des Alterns, Sterbens, in das der
Weltmensch ist verstrickt, dem Weisen zum Bewußtsein kam, wenn er die Bitterkeit, ja,
Furchtbarkeit des Lebens voll begriffen hat, wenn er dann den Graus als tollen Spuk, wenn er
als Anatta ihn besonnen schaut, ein Wohlbefinden, größer als dieses gibt es nicht“.
Wir wissen, daß der Meister an anderer Stelle sagt, daß, wer den negativen Anatta-Aspekt der
in den Satipahana geschildert wird, nicht festhalten kann, der möge sich in den positiven
Anatta-Aspekt vertiefen, indem er sich die Herrlichkeit des Nibbana-Zustandes vorstelle. Das
kann natürlich auf die verschiedenste Art und Weise geschehen.
Hier will ich nur zwei Methoden kurz andeuten. Wir kennen den Bericht über jenen Mönch,
den seine Mitmönche als Dummkopf aus dem Klostergarten hinauswarfen. Völlig verzweifelt
stand er am Ausgang des Gartens, als sich ihm der Meister näherte. Dieser berührte mit der
Hand die Stirne des Verzweifelnden und gab ihm ein weißes Tuch mit der Aufforderung, sich
in des Tuches Reinheit zu versenken1.
Wenn wir nun in der Meditation dieser Aufforderung Folge leisten, und uns ganz und gar in
den Anblick eines weißen Tuches versenken, so werden wir erfahren, daß es nicht lange währt,
bis das weiße Tuch vor unserem geistigen Auge verschwindet und wir statt seiner unser eigenes
1 Theragatha (Die Lieder der Mönche), Culapanthaka, Verse 557-566.
Gemüt vor uns sehen, das nun ebenso weiß, rein und makellos, gleich einem weißen Tuche vor
uns liegt. Aber das ist nicht alles. Wie ein glatter, klarer See, in den sich keine Quelle ergießt
und der nur von einer unterirdischen kühlen Quelle des Grundes gespeist wird, so fühlen wir
bei dieser Meditation gleichzeitig, wie aus uns unbekannten Tiefen in die Erscheinung
tretender, tiefer innerer Friede unser Gemüt erfüllt, ein Friede, der dann ebenso zum positiven
Anatta-Anblick wird. Es ist dann nur mehr die Wahrnehmung dieses Friedens da, bis
schließlich auch sie am Gipfel angelangt erlischt und nur der Große Friede bleibt.
Eine andere Methode besteht darin, daß wir uns ganz und gar in die Vorstellung einer völlig
reglosen, von keinem Windhauch berührten Wasserfläche vertiefen, gleichwie ein ruhiger,
glatter klarer See, „so ruhig, heiter im Geiste verweilen die Weisen, nachdem sie die Worte der
Lehre vernommen“, heißt es im Dhammapadam. Ohne es zu merken, wird mit zunehmender
Vertiefung und Einspitzigkeit des Geistes diese ganze Wasserfläche von selbst aus unserem
Gemüte verschwinden und stattdessen wird das Letztere selbst gleich einem ruhigen, glatten,
klaren regungslosen See vor uns liegen. Der positive Anatta-Anblick ist durchgebrochen. Die
Leerheit des Gemütes ist erreicht, die Erscheinungswelt ist verschwunden, man ist
untergetaucht in einen Ozean des Friedens.
In diesen Bereich des positiven Anatta-Anblicks fällt auch das Sichversenken in die Leerheit,
wozu die beiden angeführten Beispiele nur unmittelbare Zugangswege darstellen. Freilich ist es
durchaus individuell, ob der eine erst die Gemütsruhe, und dann den klaren Blick gewinnt. Ein
anderer zuerst den klaren Blick und dann die Gemütsruhe. Oder aber wo beide Zustände
gleichzeitig zum Erscheinen kommen, wie das ausführlich in den Meditationen Nr. 5452
ausführlich geschildert wird. Dabei dürfte dem Klarblick, vipassana, der negative Anatta-
Anblick entsprechen, die Gemütsruhe, samadhi, aber dem positiven Anatta-Anblick, dem
Erleben des Großen Friedens in all seinen Stufen und Schattierungen.
Diese Erlebnisse werden allerdings zuerst nur ahnungsweise da sein. Es wird auch immer so
sein, daß wir anfangs zwar die Muscheln, den Kies und den Sand am Grunde des Brunnens
zwar sehen, aber das Wasser selbst noch nicht berühren können. Warum sollte aber auch die
Berührung des Wassers nicht eines Tages Wirklichkeit werden?